Sunday, May 13, 2012

Was ist Litost?


"Litost ist ein tschechisches Wort, das sich nicht übersetzen lässt. Die erste Silbe, die gedehnt und betont ausgesprochen wird, klingt wie die Klage eines einsamen Hundes. In anderen Sprachen finde ich kein Äquivalent, obwohl ich mir nur schwer vorstellen kann, dass die menschliche Seele ohne dieses Wort zu verstehen ist.

Ein Beispiel: Der Student badete zusammen mit einer befreundeten Studentin in einem Fluss. Das Mädchen war sportlich, und er ein miserabler Schwimmer. Er konnte unter Wasser nicht ausatmen, schwamm langsam und hielt den Kopf krampfhaft über dem Wasserspiegel. Das Mädchen war hoffnungslos in ihn verliebt und so taktvoll, ebenso langsam zu schwimmen wie er. Als die Zeit zum Aufbruch gekommen war, wollte sie noch schnell ihren sportlichen Bedürfnissen Genüge tun und schwamm mit raschen Zügen ans andere Ufer. Der Student versuchte, schneller zu schwimmen und schluckte Wasser. Er fühlte sich erniedrigt und in seiner körperlichen Ungeschicktheit blossgestellt, er empfand Litost (...). Als die beiden auf einem Feldweg in die Stadt zurückgingen, schwiegen sie. Verletzt und gedemütigt, verspürte er den unwiderstehlichen Wunsch, sie zu schlagen. Was hast du? fragte sie, und er machte ihr Vorwürfe, auf der anderen Seite des Flusses gebe es Wirbel, er habe ihr doch verboten hinüberzuschwimmen, sie hätte ja ertrinken können - und er schlug sie ins Gesicht. Das Mädchen fing an zu weinen, und beim Anblick ihrer Tränen empfand er Mitleid mit ihr, er umarmte sie, und seine Litost zerfloss (...)

Was also ist Litost?
Litost ist ein qualvoller Zustand, der durch den Anblick unserer unvermuteten entdeckten Erbärmlichkeit ausgelöst wird.

Eines der bewährten Heilmittel gegen die eigene Erbärmlichkeit ist die Liebe. Denn wer wirklich geliebt wird, kann nicht erbärmlich sein. All seine Mängel werden durch den verzauberten Blick der Liebe aufgewogen, unter dem sogar das Schwimmen mit krampfhaft über dem Wasserspiegel gehaltenem Kopf charmant sein kann".

Aus "Das Buch vom Lachen und Vergessen" von Milan Kundera

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