Monday, August 9, 2010

JODOK LÄSST GRÜSSEN

Von Onkel Jodok weiß ich gar nichts, außer daß er der Onkel des Großvaters war. Ich weiß nicht, wie er aussah, ich weiß nicht, wo er wohnte und was er arbeitete.
Ich kenne nur seinen Namen: Jodok.
Und ich kenne sonst niemanden, der so heißt.
Der Großvater begann seine Geschichten mit: »Als Onkel Jodok noch lebte« oder mit »Als ich den Onkel Jodok besuchte« oder »Als mir Onkel Jodok eine Maulgeige schenkte.«
Aber er erzählte nie von Onkel Jodok, sondern nur von der Zeit, in der Jodok noch lebte, von der Reise zu Jodok und von der Maulgeige von Jodok.

Und wenn man ihn fragte: »Wer war Onkel Jodok?”, dann sagte er: “Ein gescheiter Mann.”
Die Großmutter jedenfalls kannte keinen solchen Onkel, und mein Vater mußte lachen, wenn er den Namen hörte. Und der Großvater wurde böse, wenn der Vater lachte, und dann sagte die Großmutter: “Ja, ja, der Jodok", und der Großvater war zufrieden.
Lange Zeit glaubte ich, Onkel Jodok sei Förster gewesen, denn als ich einmal zum Großvater sagte: “Ich will Förster werden”, sagte er, “das würde den Onkel Jodok freuen”.
Aber als ich Lokomotivführer werden wollte, sagte er das auch, und auch als ich nichts werden wollte. Der Großvater sagte immer: “Das würde den Onkel Jodok freuen."
Aber der Großvater war ein Lügner.

Ich hatte ihn zwar gern, aber er war in seinem langen Leben zum Lügner geworden.
Oft ging er zum Telefon, nahm den Hörer, stellte eine Nummer ein und sagte ins Telefon: "Tag, Onkel Jodok, wie gehts denn, Onkel Jodok, nein, Onkel Jodok, ja doch, bestimmt, Onkel Jodok", und wir wußten alle, daß er beim Sprechen die Gabel runterdrückte und nur so tat. Und die Großmutter wußte es auch, aber sie rief trotzdem: "Laß jetzt das Telefonieren, das kommt zu teuer.” Und der Großvater sagte: "Ich muß jetzt Schluß machen, Onkel Jodok" und kam zurück und sagte: "Jodok läßt grüßen."
Dabei hatte er früher immer gesagt:
“Als Onkel Jodok noch lebte”. und jetzt sagte er schon: “Wir müssen unsern Onkel Jodok mal besuchen.”
Oder er sagte: “Onkel Jodok besucht uns bestimmt”, und er schlug sich dabei aufs Knie. Aber das sah nicht überzeugend aus, und er merkte es und wurde still und ließ dann seinen Jodok für kurze Zeit sein.
Und wir atmeten auf.
Aber dann begann es wieder:
Jodok hat angerufen.
Jodok hat immer gesagt.
Jodok ist derselben Meinung.
Der trägt einen Hut wie Onkel Jodok. Onkel Jodok geht gern spazieren.
Onkel Jodok erträgt jede Kälte.
Onkel Jodok liebt die Tiere liebt Onkel Jodok geht mit ihnen spazieren bei jeder Kälte geht Onkel Jodok mit den Tieren geht Onkel Jodok verträgt jede Kälte verträgt der Onkel Jodok
d-e-r O-n-k-e-l J-o-d-o-k.

Und wenn wir, seine Enkel, zu ihm kamen, fragte er nicht: “Wieviel gibt zwei mal sieben”, oder: “Wie heißt die Hauptstadt von Island”, sondern: “Wie schreibt man Jodok?”
Jodok schreibt man mit einem langen J und ohne CK, und das Schlimme an Jodok waren die beiden O. Man konnte sie nicht mehr hören, den ganzen Tag in der
Stube des Großvaters die O von Joodook.
Und der Großvater liebte die O von Jooodoook, und sagte:
Onkel Jodok kocht große Bohnen. Onkel Jodok lobt den Nordpol.
Onkel Jodok tobt froh.
Dann wurde es bald so schlimm, daß er alles mit O sagte:
Onkol Jodok word ons bosochon, or ost on goschotor Monn, wor roson morgon zom Onkol.
Oder so:
Onkoljodok word
onsbosochon orost
ongoschotor mon
woroson mor
gonzmonokol.

Und die Leute fürchteten sich mehr und mehr vor dem Großvater, und er begann jetzt sogar zu behaupten, er kenne keinen Jodok, habe nie einen gekannt. Wir hätten davon angefangen. Wir hätten gefragt: “Wer war Onkel Jodok?” Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten.
Es gab für ihn nichts anderes mehr als Jodok.
Bereits sagte er zum Briefträger: “Guten Tag, Herr Jodok”. dann nannte er mich Jodok und bald alle Leute.

Jodok war sein Kosename: “Mein lieber Jodok”, sein Schimpfwort: “Vermaledeiter Jodok” und sein Fluch: “Zum Jodok noch mal.”
Er sagte nicht mehr: “Ich habe Hunger”, er sagte: “Ich habe Jodok." Später sagte er auch nicht mehr “Ich”, dann hieß es “Jodok hat Jodok.”
Er nahm die Zeitung, schlug die Seite “Jodok und Jodok” - nämlich Unglück und Verbrechen - auf und begann vorzulesen:
“Am Jodok ereignete sich auf der Jodok bei Jodok ein Jodok, der zwei Jodok forderte. Ein Jodok fuhr auf der Jodok von
Jodok nach Jodok. Kurze Jodok später ereignete sich auf der Jodok von Jodok der Jodok mit einem Jodok. Der Jodok des Jodoks. Jodok Jodok, und sein Jodok. Jodok Jodok, waren auf dem Jodok tot.”

Die Großmutter stopfte sich die Finger in die Ohren und rief: “Ich kann‘s nicht mehr hören, ich ertrag es nicht.” Aber mein Großvater hörte nicht auf. Er hörte sein ganzes Leben lang nicht auf, und mein Großvater ist sehr alt geworden, und ich habe ihn sehr gern gehabt. Und wenn er zum Schluß auch nichts anderes mehr als Jodok sagte, haben wir zwei uns doch immer sehr gut verstanden. Ich war sehr jung und der Großvater sehr alt, er nahm mich auf die Knie und jodokte Jodok die Jodok vom jodok Jodok — das heißt: “Er erzählte mir die Geschichte von Onkel Jodok”, und ich freute mich sehr über die Geschichte. Und alle, die älter waren als ich, aber jünger als mein Großvater, verstanden nichts und wollten nicht, daß er mich auf die Knie nahm, und als er starb, weinte ich sehr.
Ich habe allen Verwandten gesagt, daß man auf seinen Grabstein nicht Friedrich Glauser, sondern Jodok Jodok schreiben müsse, mein Großvater habe es so gewünscht. Man hörte nicht auf mich, so sehr ich auch weinte.

Aber leider, leider ist diese Geschichte nicht wahr, und leider war mein Großvater kein Lügner, und er ist leider auch nicht alt geworden.

Ich war noch sehr klein, als er starb, und ich erinnere mich nur noch daran, wie er einmal sagte: “Als Onkel Jodok noch lebte”, und meine Großmutter, die ich nicht gern gehabt habe, schrie ihn schroff an: “Hör auf mit deinem Jodok”, und der Großvater wurde ganz still und traurig und entschuldigte sich dann.

Da bekam ich eine große Wut - es war die erste, an die ich mich noch erinnere- und ich rief: “Wenn ich einen Onkel Jodok hätte, ich würde von nichts anderem mehr sprechen!”
Und wenn das mein Großvater getan hätte, wäre er vielleicht älter geworden, und ich hätte heute noch einen Großvater, und wir würden uns gut verstehen.


aus: Peter Bichsel: Kindergeschichten.

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